Event Pics - Europe/Def Leppard/Mötley Crüe in Thun (27.06.23)
Def Leppard 4:1 Mötley Crüe - oder: wie man in Würde altert
Der Abend im Thuner Fussballstadion beginnt mit einer „Vorband“, wie sie besser nicht sein könnte: Europe sind eine gestandene Truppe, die genau weiss, wie es geht. Dass sie in vollem Tageslicht auftreten müssen, keine Lichtshow machen können und überhaupt nicht von der magischen Dunkelheit profitieren können, nehmen sie wie absolute Profis. Joey Tempest mit dem sprichwörtlichen „jungen Reh“ zu vergleichen, greift vielleicht etwas hoch, aber trotzdem macht seine Bühnenperformance Freude. Das Set besteht nur aus neun Songs und ist eigentlich ziemlich auf den Punkt. Der Start mit „Walk the Earth“ und „Rock the Night“ ist definitiv gelungen; auch „Scream of Anger“ wäre ein guter Song, wird aber bereits nicht mehr von allen entsprechend honoriert. „Last Look at Eden“ lässt dann die Stimmung noch weiter abflachen - was aber nichts mit der Bandperformance zu tun hat.
Die circa 14’250 Gäste in der Stockhorn Arena sind nämlich zu einem guten Teil „Partyvolk“ - will heissen, sie sind in erster Linie für die grossen Hits da und wollen einfach einen guten Abend erleben. So einige sind zu diesem Zeitpunkt ausserdem noch gar nicht da (hallo Stau!), andere wollen erst mal in Ruhe ankommen und vielleicht noch etwas essen. Aber bei „Carrie“ singt man dann doch auch mit vollem Mund mit. Tempest umschifft die ganz hohen Parts und singt sie einfach tiefer - so altert man würdevoll. Auch „Ready or Not“ und „Superstitious“ sind eigentlich gute Stücke (beide von „Out of This World“, 1988) bei denen man die Qualität der Musiker hört; aber das Publikum geht nach „Carrie“ halt wieder in den „Ankomm“-Modus über. Ein Aufhorchen lediglich, als Joey plötzlich kurz „No Woman, No Cry“ von Bob Marley & The Wailers anstimmt. Es passt herrlich zum warmen Wetter.
Bei der Zugabe (als „Special Guest“ darf man das, als Europe sowieso) steigt das Stimmungsbarometer dann wieder rapide: „Cherokee“ ist eh mega eingängig - und mit „The Final Countdown“ ist sowieso ein Höhepunkt erreicht. „We’re heading for Venus and still we stand tall..."; diesen Song kennen einfach alle und irgendwie wird er auch nicht langweilig. Live dabei zu sein schlägt jede „Festhütte/Silvester/Home-Party“-Erfahrung.
Aber nun zum Battle der beiden Bands, die sich auf dieser Tour in der Headliner-Rolle abwechseln: Def Leppard gegen Mötley Crüe in der Frage „Wie altert man stilvoll als Rockband“?
Disclaimer: Die Idee eines Vergleiches ist als spielerische Variante eines klassischen Konzertberichtes gedacht. Durch die Konzentration auf fünf Fragen werden einige andere Aspekte der Performances und vor allem ganz viele Aspekte der Bandgeschichten (Bedeutung, Einfluss, usw) hier nicht berücksichtigt. Es handelt sich um eine Momentaufnahme unter dem Gesichtspunkt des „würdevollen Alterns“ und um persönliche Eindrücke von diesem Abend.
Wie zieht man sich an?
Def Leppard: Dem Alter entsprechend - mehr oder weniger, man ist schliesslich immer noch eine Rockband. Und so sind auch ein hellblaues Samthemd, ein bisschen Ausschnitt für die Brustmuskeln, Schlaghosen, ein mit Engel-Motiven bedrucktes Gilet oder rosenbestickte Doc Martens ok, wenn man den Fokus einfach darauf legt, eine gute Show zu spielen, ohne Egotrips zu performen.
Mötley Crüe: Die Jungs waren mal so heiss (wer die Bandfotos zu „Shout at the Devil“ nicht überm Bett hängen hatte, werfe den ersten Stein) - und kommen offenbar nicht damit klar, dass sich seit Anfang der 1980er-Jahre einiges verändert hat, auch am eigenen Körper - was total ok wäre (auch hier können fast alle Fans einen Bezug herstellen, man wird nun mal einfach nicht jünger). Aber der Versuch, so viele Nieten wie irgend möglich auf einer Jacke unterzubringen und dazu noch einen Tierschwanz am Gürtel zu kombinieren - looking at you, Nikki Sixx- ist halt einfach misslungen.
Def Leppard: 1:0 Mötley Crüe
Wie singt man?
Def Leppard: Dem Stimmumfang entsprechend - ja, der hat sich auch bei Def Leppard verändert. Joe Elliott singt zum Teil tiefer/anders, als in früheren Zeiten - aber die Songs funktionieren trotzdem. Zwischen älteren und jüngeren Songs ist in diesem Sinne kein Qualitätsunterschied zu bemerken. Es mag tatsächlich anders tönen als noch 1980, wahrscheinlich klingt es lieblicher, zugänglicher und mehrheitsfähiger insgesamt, wie auch der gesamte Song-Katalog seit „Hysteria“, teilweise sogar seit „Pyromania“ - aber das ist genau nach dem Geschmack der Masse in Thun. Aber wichtig festzuhalten ist, dass die Songs nicht schlechter sind, auch wenn vielleicht in den Stimm-Linien Anpassungen vorgenommen wurden - und Joe ist total sicher in seiner Arbeit, weil er heute einfach in seiner Range singt und nicht versucht, etwas zu stemmen, das er nicht kann.
Nach den Knallern vom Anfang (zum Beispiel „Animal“ oder auch „Foolin’“) ist aber ebenfalls ein Abbruch in der Stimmung festzustellen. Die Frage ist: Kennen die Leute die Songs überhaupt, oder warten sie einfach auf das, was „man“ kennt? Spätestens bei „Love Bites“ sind dann viele rote Augen auszumachen, ohne dass Marihuana-Geruch in der Luft liegt - definitiv ein (Balladen-)Klassiker, zu dem viele ihren ganz eigenen Erinnerungen nachhängen.
Mötley Crüe: Die Stimme von Vince Neil ist für manche Menschen unerträglich. Für welche Menschen? Für alle mit Ohren. Alle, die da waren, wissen, wovon ich rede. Leider wissen auch alle, die bereits 2015 bei der „Abschiedsshow“ in Basel waren (beste Fans, die mit diesem „Abschieds“-Shirt nach Thun gepilgert sind!), worum es geht. Dank der Background-Sängerinnen (zum Teil vielleicht Playback, weil sie noch tanzen mussten?) wurde das Schlimmste abgewendet und man konnte die Hits trotzdem (zu erwähnen ist „Dr. Feelgood“) halbwegs geniessen. Allerdings darf man die Tagesform nicht vergessen. Es soll auch bessere Performances auf dieser Tour gegeben haben, etwa in München, wo die LA-Crüe vor Def Leppard dran war. Auch die dazwischengeschobene Club-Show im Londoner „Underworld“ in Camden scheint gemäss YouTube-Video cool gewesen zu sein. Die Stimme war auch da nicht gut - aber der Mötley-Vibe kam einiges geiler rüber als in Thun.
Vielleicht, wenn die beiden Frauen tatsächlich als „richtige“ Background-Sängerinnen engagiert würden - und nicht noch viele Rockstar-Klischees bedienen müssten- wären die Songs viel angenehmer zu hören (ich denke da an David Coverdale, der sich recht erfolgreich von den anderen Whitesnake-Leuten auf der Bühne helfen lässt - oder an Meat Loaf, der sich seinerzeit von einer Sängerin unterstützen liess; und wahrscheinlich gibt es noch mehr Beispiele).
Def Leppard: 2:0 Mötley Crüe
Was für eine Show wird geboten?
Def Leppard: Klassisch. Fünf Männer performen einen Rock-Gig. Mal kommt der eine nach vorne, mal der andere (dank des Stegs haben auch die Fans weiter hinten etwas von ihren Stars). Teilweise werden auf der Leinwand hinter der Band alte Fotos gezeigt, sonst werden Live-Bilder eingeblendet. Die programmierte Laser-Show geht leider komplett unter, aber das ist dem momentanen Sonnenstand geschuldet. Am Ende des Gigs wird das aktuelle Promo-Bild der Band eingeblendet, der Schriftzug „Thun“ steht darüber. Britisches Understatement, aber es kommt an.
Mötley Crüe: Hier schlägt Los Angeles zu! Showmässig macht dem Quartett an diesem Abend niemand etwas vor. Die beiden Tänzerinnen sind voll im Takt, das Bühnenbild ist immer wieder neu. Auf der Bühne selbst sind Show-Elemente montiert plus kleine Schmankerl wie zum Beispiel eine grinsende Penis-Figur am Schlagzeug, oder grosse Schmankerl wie Roboterinnen als luftgefüllte Riesenfiguren beidseits der Bühne. Im Dunkeln ist die Mötley-Show sicher einen Augenschein wert. Der Punkt geht an Mötley Crüw, jedoch mit einem Aber: Am Ende ist es halt alles nur Show.
Def Leppard: 2:1 Mötley Crüe
Wie man mit den Fans interagiert:
Def Leppard: Die Briten beschränken sich auf das Wesentliche: einige Songs werden vorne auf dem Steg performt, natürlich wird das Thuner Publikum gelobt. Joe Elliott begrüsst, dankt und leitet durch das Set, aber spezielle Interaktionen gibt es nicht.
Mötley Crüe: Neben den Ansagen von Vince Neil sind auch Auftritte von Nikki Sixx und Tommy Lee eingeplant. Nikki holt zwei Frauen auf die Bühne, von denen eine das Schild mit der Aufschrift „Therapy? Na, Bro… MÖTLEY CRÜE“ emporgestreckt hatte. Er unterschreibt dieses Schild, die Frauen freuen sich sehr. Später entert Tommy den Steg, bedankt sich nett bei der Crowd - und beklagt sich dann, dass er Backstage keine Joints gesehen hat. Gerade als man diese Teenager-Aussage verarbeiten will, beschwert er sich darüber, dass er heute noch keine Brüste im Publikum gesehen hätte (offenbar macht er das bei jeder Show auf dieser Tour…). Natürlich folgen ein paar Frauen dem Aufruf und zeigen ihr Brüste, die Tommy freundlich kommentiert (auch die eines Mannes). Äh.. ja.
Def Leppard: 3:1 Mötley Crüe
Wie werden Solos performt?
Def Leppard: Das Drum-Solo (bei „Switch 625") von Rick Allen wird so sehr gefeiert, wie es selten bei Schlagzeugern passiert. Möglicherweise hat es mit den besonderen Umständen zu tun: Dass die Band ihren Schlagzeuger trotz dem Unfall, bei dem er seinen linken Arm verlor, nicht aufgegeben hat, rührt und begeistert die Menschen. Und Rick Allen ist seinerseits gerührt und bedankt sich herzlich.
Mötley Crüe: Das einzige „definierte“ Solo kommt von John 5, der für Mick Mars eingesprungen ist. Er wird von Nikki Sixx angesagt, der zuvor ordentlich mit Schweizer-Fahne und „we’ll be back“-Ansagen Stimmung gemacht hatte. Für John 5 interessieren sich aber leider nur wenige Leute, obwohl er ein ausgezeichneter Gitarrist ist. Während seines Solos checken aber doch einige, was er eigentlich kann und klatschen dann entsprechend.
Def Leppard: 4:1 Mötley Crüe
Fazit: Die 1980er-Jahre aufleben zu lassen, ist kein einfaches Stück Arbeit. Eigentlich muss man sich eingestehen: Es geht nicht. Gute Musik bleibt jedoch - und von der haben beide Bands (und auch Europe) zu ihrer Zeit so einiges abgeliefert. Danke dafür!
Text & Bilder: Leandra Jordi